Wassili Grossman schrieb über Stalingrad – so weit er konnte (2024)

Wassili Grossmans epochalem Werk war keine leichte Geburt beschieden. Da das Thema im Mittelpunkt des heroischen sowjetischen Kriegsnarrativs stand, musste er nach dem Willen der Zensur umgeschrieben werden. Dennoch blieb er nicht ohne Biss.

Ulrich M. Schmid

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Wassili Grossman (1905–1964) ist möglicherweise der unbekannteste Klassiker der modernen russischen Literatur. Seine prekäre Stellung im Kanon hat damit zu tun, dass er leicht mit einem sozrealistischen Dienstschriftsteller verwechselt werden kann.

Grossman hatte seine literarische Karriere als überzeugter Kommunist begonnen und wurde ausgerechnet im Jahr 1937, dem Höhepunkt des Stalin-Terrors, in den Schriftstellerverband aufgenommen. Nachdem die Wehrmacht 1941 die Sowjetunion überfallen hatte, meldete sich Grossman als Kriegsreporter und verfasste zahlreiche Beiträge für die Militärzeitung «Roter Stern». Er erlebte die Schlacht von Stalingrad als Augenzeuge mit und nahm an der Befreiung der Vernichtungslager Majdanek und Treblinka teil.

Tiefer Einschnitt

Die Kriegserfahrung markiert einen tiefen Einschnitt in seiner intellektuellen Biografie: Grossman begann darüber nachzudenken, ob die Nazi-Ideologie und der Stalinismus in ihrem innersten Wesen verwandt seien. Er entdeckte mit dem Holocaust auch seine eigene jüdische Identität, von der er bisher geglaubt hatte, dass sie im Sozialismus absterben würde. Und schliesslich gelangte er zu der Überzeugung, dass es eine allgemein menschliche Moral gibt, die sich nicht in marxistisch-leninistischen Kategorien beschreiben lässt.

Als erstes Zeugnis dieser gewandelten Einstellung zur Sowjetwirklichkeit darf der monumentale Stalingrad-Roman gelten, der nun erstmals in einer rekonstruierten Fassung auf Deutsch vorliegt. Gleich drei Übersetzer bringen Grossmans epische Vision auf 1200 Buchseiten in eine ebenso eindringliche wie beklemmende deutsche Prosa. In der DDR erreichte eine politisch korrekte Version dieses Romans unter dem Titel «Wende an der Wolga» Ende der fünfziger Jahre immerhin sechs Auflagen.

Bis zur Publikation musste Grossman allerdings einen weiten Weg zurücklegen. Die Redaktoren der wichtigsten Literaturzeitschrift «Nowy Mir» waren von der literarischen Qualität des Manuskripts beeindruckt. Allerdings stand der Sieg von Stalingrad im Mittelpunkt des heroischen sowjetischen Kriegsnarrativs. Jede literarische Darstellung musste deshalb von allen Seiten abgesichert werden.

Zunächst gingen die Forderungen sehr weit: Man legte Grossman nahe, alle nicht militärischen Kapitel wegzulassen. Schliesslich reduzierten sich die Auflagen auf drei Punkte: Die Kriegsszenen seien zu düster, Stalin komme zu wenig vor, und als Protagonist könne kein jüdischer Wissenschafter auftreten.

Grossman fügte sich und schrieb den Roman um. Unter dem unverfänglichen Titel «Für die gerechte Sache» erschien der Stalingrad-Roman 1952 in «Nowy Mir» und erlebte 1954 und 1956 zwei Buchausgaben. Wie Robert Chandler, der Herausgeber der vorliegenden Fassung, ausführt, unterscheiden sich diese drei Fassungen deutlich voneinander und weichen auch von den jeweiligen Typoskripten ab.

Chandlers Version des Romans beruht auf der Buchausgabe von 1956, in der sich das Tauwetter bereits ankündigt. Bei der Darstellung der Militäroperationen wird hier Stalins Führungsrolle deutlich reduziert. Korrigierend hat Chandler allerdings heikle Themen aus dem Typoskript wieder eingefügt – paradoxerweise findet sich nun neben kritischen Bemerkungen über die Sowjetwirklichkeit auch eine positive Darstellung von Stalins berüchtigtem Befehl «Kein Schritt zurück!» erneut im Romantext.

Auf Tolstois Spuren

Grossman orientiert sich bei seiner Darstellung der Schlacht von Stalingrad am Vorbild von Leo Tolstois Romanepos «Krieg und Frieden», in dem sich Familienszenen und Kampfbeschreibungen verschränken. Grossman folgt Tolstoi sogar bei den geschichtsphilosophischen Einlassungen, die aus der Perspektive des allwissenden Erzählers formuliert werden. Natürlich gibt es bei Grossman offen propagandistische Stellen, in denen er die Kraft des vereinten Sowjetvolkes beschwört. Allerdings scheut er sich auch nicht davor, heikle Themen wie den Stalin-Terror, die Kollaboration mit den deutschen Besatzern oder den Mord an der jüdischen Bevölkerung Kiews zu erwähnen.

Grossman erhält den Spannungsbogen seines Romans über mehr als 1000 Seiten meisterhaft aufrecht. Die Handlung ist als Klimax angelegt und gipfelt in der Verteidigung des Stalingrader Bahnhofs, bei dem ein ganzes sowjetisches Bataillon ums Leben kommt. In diesen letzten Kapiteln zeichnet Grossman ein erschütterndes Bild seiner Protagonisten, die sich im Angesicht des Todes gegenseitig Trost zusprechen.

Die Handlung von «Stalingrad» hört genau dort auf, wo Grossmans nächstes, noch umstritteneres Epos beginnt: In «Leben und Schicksal» kritisierte er den Abgrund zwischen Anspruch und Wirklichkeit des sowjetischen Projekts. Die Parteiführung signalisierte ihm, das Buch könne vielleicht in zwei- bis dreihundert Jahren veröffentlicht werden. So lange dauerte es dann doch nicht: 1988 erschien die erste Ausgabe in Russland.

Wassili Grossman: Stalingrad. Roman. Aus dem Russischen von Christiane Körner, Maria Rajer und Andreas Weihe; der Anhang wurde aus dem Englischen übersetzt von Anselm Bühling. Mit einem Vorwort von Jochen Hellbeck und einem editorischen Nachwort von Robert Chandler. Claassen-Verlag, Berlin 2021. 1276S., Fr. 49.90.

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