«Stalingrad» von Wassili Grossman: Der verbotene Krieg (2024)

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Jetzt ist es möglich, das monumentale Werk von Wassili Grossman in seiner Gesamtheit zu würdigen. Damals fiel es der Zensur zum Opfer. In Wladimir Putins Russland würde es ihm heute nicht anders ergehen.

Klara Obermüller

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«Stalingrad» von Wassili Grossman: Der verbotene Krieg (1)

Vor 70 Jahren erschien der erste Teil von Wassili Grossmans Epos über den Grossen Vaterländischen Krieg als Fortsetzungsroman in der sowjetischen Zeitschrift «Novy Mir». Unter dem Titel «Stalingrad» wurde er jetzt aufgelegt.

Dass sein Erscheinen mit dem Verbot von «Memorial» zusammenfiel, jener Organisation, die sich die kritische Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte zur Aufgabe gemacht hatte, mag Zufall sein. Putins Versuche, jegliche Kritik am stalinistischen Russland im Keim zu ersticken, haben dem Werk jedoch unversehens eine erschreckende Aktualität verliehen und es zu einem gewichtigen Zeugen wider Lüge und Zensur gemacht.

Wassili Grossman wusste, was Krieg ist. Im Gegensatz zu seinem grossen Vorbild Leo Tolstoi, der die napoleonischen Kriege aus über 50-jähriger Distanz beschrieben hatte, war er von Anfang bis Ende mittendrin.

Nur wenige Tage nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion meldete er sich freiwillig zum Dienst in der Roten Armee, wo er als Kriegsreporter für die Armeezeitung «Krasnaja Swesda» (Roter Stern) eine ihm entsprechende Aufgabe fand.

Von der Schlacht vor Moskau über den Kampf um Stalingrad bis hin zur Eroberung von Berlin verfolgte er alle wichtigen Etappen des Krieges aus nächster Nähe und hielt das Geschehen in seinen Berichten fest. Der für den Kriegsverlauf wohl zentralste Schauplatz, Stalingrad, hat dank ihm Eingang in die Literatur gefunden.

«Stalingrad» von Wassili Grossman: Der verbotene Krieg (2)

Noch vor Kriegsende begann Wassili Grossman an einem Epos zu schreiben, in dessen Mittelpunkt er das Schicksal zweier weitverzweigter Familien stellte.

Der erste Teil des von Anfang an als Dilogie angelegten Werks erlebte nach seinem ersten Erscheinen 1952 mehrere Auflagen in Buchform, darunter auch eine in der DDR. Der Westen nahm von diesen als regimetreu geltenden Publikationen keine Notiz.

Anders im Fall von «Leben und Schicksal», dem 1960 fertiggestellten zweiten Teil. Er fiel der Zensur zum Opfer und fand erst 1980 auf abenteuerliche Weise den Weg in den Westen, wo er als Werk eines sowjetischen Dissidenten gewürdigt wurde.

Krieg hat nichts Erhabenes

Nur die wenigsten Leser dürften damals gewusst haben, dass dem über tausendseitigen Wälzer ein ebenso umfangreicher Band vorausgegangen war.

Erst jetzt ist es möglich, das monumentale Werk in seiner Gesamtheit zu würdigen, nachdem ein Team um den englischen Herausgeber und Übersetzer Robert Chandler den ersten Teil der Dilogie rekonstruiert und aus den teilweise stark divergierenden Ausgaben eine editorisch vertretbare Fassung erstellt hat.

Darin lässt sich auch nachlesen, wie der Autor sich selbst und sein Schaffen verstand. «Tolstoi hatte es leicht, sein wunderbares grosses Buch zu schreiben», heisst es da, «er schrieb es nicht unter Höllenqualen, die er mit jeder Faser, mit jeder Sehne durchlitt, nicht mit einem zerschundenen Herzen, sondern als nur noch das Vernünftige, das Erhabene, das Helle in Erinnerung geblieben war.»

Er sah den Dreck und das Blut und das Grauen in den Augen der Verwundeten, er sah aber auch die Hilfsbereitschaft der Menschen untereinander

Nein, bei Wassili Grossman hat der Krieg nichts Erhabenes. Er teilte mit den Rotarmisten das harte Leben an der Front und mit den Bewohnern von Stalingrad ihren prekären Alltag in der eingekesselten Stadt.

Und er schaute genau hin. Er sah den Dreck und das Blut und das Grauen in den Augen der Verwundeten, er sah aber auch die Hilfsbereitschaft der Menschen untereinander und die Schönheit der Landschaft, wenn für einmal die Waffen schwiegen.

Er sah den verzweifelten Kampf der Zivilbevölkerung ums Überleben. Er bewunderte ihren Mut und ihr Durchhaltevermögen und nahm staunend jene Zeichen «sinnloser Güte» wahr, an die zu glauben er sich nicht nehmen lassen wollte.

Manchmal scheint es, als schildere Grossman das Kriegsgeschehen wie ein Feldherr aus weiter Ferne, dann wieder ist er ganz nahe bei den Menschen und erreicht so eine Unmittelbarkeit, die uns beim Lesen zu Mithandelnden und Mitleidenden macht.

Es waren wohl sein alles Heroisierende meidendes Schreiben und seine zutiefst humanistische Haltung, die Grossman der Staatsmacht von Anfang an verdächtig machten. Noch scheint sein Glaube an den Sozialismus und die Notwendigkeit seiner Verteidigung gegen den Faschismus ungebrochen, doch vieles von dem, was später zur Verurteilung von «Leben und Schicksal» führen sollte, findet schon in «Stalingrad» kritisch Erwähnung.

Erschütterndes Denkmal

Grossman wusste um die stalinistischen Säuberungen und die verheerenden Folgen der Zwangskollektivierung. Als Jude war er von dem immer giftiger werdenden Antisemitismus persönlich betroffen. Doch noch wehrte er sich, anzuerkennen, was eine seiner Figuren später in «Leben und Schicksal» als Wesensgleichheit zweier menschenverachtender Systeme bezeichnen wird.

Wie schwer Grossman am Verlust seines Glaubens an den Sozialismus gelitten haben muss, lässt sich jetzt ermessen, da beide Bände seines Kriegsepos im Zusammenhang gelesen werden können.

Den Kampf um die Veröffentlichung von «Leben und Schicksal» hatte er zwar zeit seines Lebens nicht aufgegeben, die Hoffnung auf eine Veränderung der politischen Verhältnisse in seiner Heimat jedoch war ihm wohl abhandengekommen.

Es blieb ihm nur der Glaube an die menschliche Güte, die allen Systemen trotzt und alle Katastrophen überdauert. Ihr hat er in seinem literarischen Werk ein erschütterndes Denkmal gesetzt.

Wassili Grossman: Stalingrad. Claassen, Berlin 2021, 1276 Seiten, Fr. 49.90.

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